So sah das Busfahren vor der Reform aus: der Fahrer in einer lächerlichen Uniform, getrennt von seinen Fahrgästen, unhöflich von ihnen abgewandt |
Von Pia Fraus
BERLIN, 11. Januar. „Na, denn komm’ Se mal rin, junge Frau!“ Ich stehe im Zehlendorfer Gemeindewäldchen am südwestlichen Rande Berlins; im Sommer findet man hier kühle und schattige Plätzchen, aber jetzt ist es selbst mittags dunkel, es stürmt unter grauem Himmel wie überall in der Stadt, nasse Flocken von Schneeregen fallen auf die Fenster und die gelbe Karosserie des Doppeldeckerbusses vor mir, um dort sofort zu schmelzen.
Mit lautem Zischen hat Omnibuschauffeur Horst Kasuppke die vordere Tür geöffnet, freundlich und einladend blickt mich sein rotes Gesicht vom Fahrersitz aus an. Ich folge seiner Aufforderung und steige ein, die Tür schließt sich hinter mir mit einem kleinen Rums, wohlige Wärme zwischen beschlagenen Fensterscheiben empfängt mich. „Jültjen Fahrausweis?“ fragt Kasuppke. Als ich nach meiner Handtasche greife, weicht seine geschäftige Miene einem pfiffigen Grinsen: „Braucht Se doch jar nich mehr! Dit war nur’n Scherz. Is jetz vieles anders hier.“
In der Tat hat sich vieles verändert bei den Berliner Verkehrsbetrieben, dem Staatsbetrieb mit der unlogischen Abkürzung BVG. Genau wegen dieser Veränderungen bin ich hier, seit vielen Jahren zum ersten Mal wieder in meiner Heimatstadt Berlin; ich möchte mir selbst ansehen, was sich seitdem bei den öffentlichen Verkehrsmitteln der Hauptstadt so alles getan hat. Man hört ja so einiges, und man hört vor allem, daß die Neuerungen, die sich in Berlin ergeben haben, bald die ganze Bundesrepublik erfassen sollen: im Bundesverkehrsministerium arbeitet man seit Minister Ramsauer an einem neuen Personenbeförderungsgesetz, und die BVG hat Einfluß, denn sie ist sehr reich. Und Dobrindt liebt den Fortschritt.
Ich gehe am Fahrer vorbei und setze mich in die erste Reihe. Hinter mir sitzen nur wenige Fahrgäste, hauptsächlich Senioren. Die Jugend hat am Sonntag natürlich Besseres zu tun als Bus zu fahren, gerade bei dem Sauwetter: sie liegt noch im Bett, ist beim Frühstück oder in der Kirche.
Tuckernd verläßt der Autobus die Haltestelle Busseallee und biegt nach links auf die Potsdamer Straße ein. Die Passagiere singen „Hoch auf dem gelben Wagen“; Kasuppke singt mit. Ab hier folgt die Buslinie M48 dem alten Verlauf der Bundesstraße 1; Ziel unserer Fahrt: der Alexanderplatz, Zentrum des Ostens. Mag der Weg auch alt sein, das Ziel stets dasselbe, die Formen sind doch völlig neu: Der M48er ist Gegenstand eines Modellprojektes, dessen Vorbild die Berliner Omnibuslandschaft völlig umgekrempelt hat. Horst Kasuppke, der Fahrer, gehört zu den Innovativsten Berlins; ihm traut man zu, die alte Tante BVG in die Gegenwart und darüber hinaus zu führen.
Während wir über die Berliner Straße rollen, lehnt der Fahrer mit dem Rücken an der Windschutzscheibe und erzählt von seinem Frühstück und von der Bedeutung der B1 für die Berliner. Das kenne ich von früher nicht. Statt der mir von früher vertrauten blauen BVG-Uniform trägt Kasuppke einen bunten Strickpullover, dazu eine bequeme Cordhose und Tennissocken in Birkenstocksandalen. Die Schirmmütze mit dem Berliner Bären, Abzeichen seines Amtes, hat er immerhin auf dem Kopf, allerdings mit dem Schirm nach hinten. Das wirke auf die jungen Leute weniger abschreckend und erlaube durch das Erschreckende des Ungewohnten einen völlig neuen Blick auf das alte Symbol, sagt er. Die Mütze trägt er seit zwanzig Jahren so.
Wir sind nun Unter den Eichen; Kasuppke spricht immer noch und geht dabei im Mittelgang auf und ab. Über ihm eine helle Stelle: hier klebte einmal ein Schild: „Während der Fahrt nicht mit dem Fahrer sprechen!“ Unter uns Schlaglöcher im Pflaster, links Dahlemer Villen, rechts Zehlendorfer Blockrandbebauung; doch durch die kondensierte Feuchtigkeit auf den Fensterscheiben sieht man sie kaum. Die Gaslaternen leuchten trotz der Mittagszeit.
Ich blicke mich um: Sauber ist es nicht gerade, und die rote Ölkontrolleuchte am Armaturenbrett blinkt unentwegt; der Motor läuft unruhig, die Fahrgäste singen: „Das Wandern ist des Müllers Lust“; Kasuppke singt mit. Als ich noch klein war, reinigten die Busfahrer ihr Fahrzeug vor der Fahrt gründlich; dann knieten sie minutenlang konzentriert vor der geöffneten Motorhaube und prüften die Technik; erst danach stiegen sie ein. Doch die heutigen Prioritäten scheinen andere zu sein.
Vorne trägt jetzt eine Frau einen Auszug aus den Beförderungsbedingungen vor. Wir haben den Botanischen Garten links liegengelassen und bewegen uns nun durch die Schloßstraße, die Einkaufsmeile des Südwestens. Über dem Autobahnzubringer droht vor grauem Gewölk der Bierpinsel, vor Karstadt stehen die Johanniter im Regen und sammeln Spenden; es ist verkaufsoffen, die Frau stottert, wir sind in Steglitz.
Ursprüngliche Formen der Sitzanordnung beim Reisen, die die tätige und bewußte Teilnahme der Reisenden erst ermöglichten, ... |
... wurden zuerst in der Jugendorganisation der BVG wieder aufgegriffen. |
Später hätte sich die dann sogenannte Reichspost von ihren Ursprüngen entfernt; so hätten sich aus Standesdünkel die Boten eigene Uniformen gegeben, sie hätten sich Sonderrechte und Salvaguardien eingerichtet und sich von den Menschen abgewandt. Verkehrsregeln seien eingeführt worden: Herrschaftswissen, gar nicht feine Unterschiede, die die Fahrer von den Gefahrenen unterschieden und das Fußvolk der Macht der Motorisierten auslieferte. Die Fortbewegungsmittel waren in der Hand des Großverkehrs. Schilder, Ampeln, Blinker kamen auf: für die einen eine reiche Symbolsprache, für Kasuppke überflüssiger Schnickschnack, Verschwendung, nur den Wissenden zugänglich. Kasuppke achtet die Schilder nicht; Flensburg ist weit.
Der M48er fährt durch Friedenau; die Passagiere singen: „Fahrn, fahrn, fahrn auf der Autobahn“; Kasuppke singt mit. Die Schloßstraße wird zur Rheinstraße, die Rheinstraße zur Hauptstraße. Kasuppke steht an der Mitteltür in der Kinderwagenbucht und doziert über Verkehrserziehung: Die Straßenverkehrsordnung ist unwichtig, es kommt darauf an, daß die Verkehrsteilnehmer einander verstehen; eigentlich braucht man nur § 1 zu beachten. Wenn überhaupt.
Kasuppke will die BVG zurück zu ihren Quellen führen. Darum wendet er sich, wenn er am Steuer sitzt, stets den Fahrgästen zu; darum hat er auch das Lenkrad vom vorderen Ende des Busses weg in den Mittelgang versetzen lassen. So kann er mit dem Rücken zum Verkehr sitzen und trotzdem lenken. Daß das früher schon einmal so war, dafür hat Kasuppke archäologische Beweise; die hat er alle in einem Buch gesammelt: venezianische Galeeren sieht man da, U-Boote, Raumkapseln; überall wendet sich der Steuermann seinen Passagieren zu. Die Fahrgäste singen: „Pack die Badehose ein“; Kasuppke singt mit.
S- und U-Bahnhof Innsbrucker Platz. Es beginnt Tarifbereich A; ich bete, daß uns Kasuppke heil zum Ziel bringt. An dieser Stelle nimmt Kasuppke, wenn ihm danach ist, manchmal statt der Haupt- die Martin-Luther-Straße. Oder er biegt etwas später links in die Akazienstraße ab: Schöneberg ist so schön, und am Winterfeldtplatz gibt es eine gute Dönerbude. Besonders den Touristen sollte man auch solche Stellen zeigen, schließlich ist der Busfahrer ja auch ein klein wenig der Hirte seiner Fahrgäste. Und was ist schon der Fahrplan? findet Kasuppke. Die Menschen stehen heute auf andere Verläßlichkeitsformen.
Am U-Bahnhof Bülowstraße muß sich der Autobus durch dichten Verkehr kämpfen. Fahrer Kasuppke ist währenddessen auf dem Oberdeck, um allen seinen Fahrgästen die Hand zu schütteln. Es ist wichtig, den Menschen Aufmerksamkeit zu schenken, damit sie wachsen können, meint er. Eine Busfahrt entsteht ja überhaupt erst durch die Fahrgäste, sie sind deren Zentrum und Urgrund; früher, als man das noch nicht erkannt hatte, fuhren Busse sogar, wenn überhaupt keine Fahrgäste darin saßen; undenkbar für Kasuppke. Die Passagiere singen: „Im Frühtau zu Berge wir zieh’n, vallera!“; Kasuppke singt mit.
Ja, auch das Leben der Busfahrer hat sich verbessert bei der BVG: „Am Abend, am Morgen, am Mittag halte ich und tanke; siebenmal am Tag funke ich der Zentrale wegen ihrer gerechten Entscheide“, hat Kasuppke noch in der Ausbildung gelernt. Das findet er ziemlich altmodisch, darüber könne man eigentlich nur lachen. Es reiche, daß er seinen Bus liebe und seinen Job gerne mache. Er sei Busfahrer mit Leib und Seele, ihm lägen die Sorgen der Fahrgäste am Herzen. Ein Busfahrer ist immer auch Sozialarbeiter. Fortbewegung heißt Fortschritt, und der läßt sich nicht aufhalten. Die Chefs müssen das verstehen, sonst geht er. Wir sind auf der Potsdamer Straße; im Radkasten schleift ein Hollandrad; die Passagiere singen: „Auf der schwäbschen Eisenbahne“; Kasuppke singt mit.
Auch ganz neue Sitzordnungen wie die zirkuläre Hinordnung auf ein gemeinsames Zentrum werden von der BVG geprüft. |
Die Fahrgäste aber fühlten sich geborgen; sie vertrauten den Fahrern mit ihrer sicheren Routine, die zügig, planmäßig, in konzentrierter Stille ihr Werk verrichteten. Die Passagiere blickten aus dem Fenster, lasen im Fahrplan, achteten auf den Verkehr und den Fahrer oder beteten gar den Rosenkranz. Doch dann kam Kasuppke! Er merkte, daß die Fahrgäste nicht bei der Sache waren. Zu ihrem eigenen Besten ließ er sie singen, immer ein Lied, das zur Verkehrssituation paßte.
Anfangs saß er dabei am Steuer, während ein Fahrgast, den er gut kannte, den Vorsänger machte. Aber das entkoppelte Fahrer und Gefahrene nur noch weiter, ein Greuel für Kasuppke, der auf Kooperation setzte. Die Menschen im Bus sollten ein gemeinsames Werk vollbringen, und da nicht alle fahren konnten, mußte er eben mit ihnen singen. Von nun an sang er mit den Fahrgästen Lieder zur Verkehrssituation; der Bus lenkte sich dann eben alleine.
Wir kommen zum Höhepunkt unserer Fahrt: der Potsdamer Platz, ein kaum zu überblickendes Knäuel aus Autos, Ampeln, Fußgängern, Fahrspuren, Schildern, Verkehrsregeln. Früher herrschte dort immer atemlose Stille, während der Fahrer mit äußerster Vorsicht lenkte, schaltete, beschleunigte, bremste, den Bus so zügig wie möglich, so langsam wie nötig über den Platz steuerte, dessen Wichtigkeit mit einem ehrfurchtgebietenden Verkehrsturm herausgehoben war. Hier kam es auf jedes Blinken, jedes Handzeichen an, jede Handlung des Fahrers war wichtig und konnte über Leben und Gesundheit der Verkehrsteilnehmer entscheiden. Nun aber kann ich Kasuppkes Reform in ihrer vollen Ausfaltung erleben: Der M48er rast auf die Kreuzung, bremst, schlägt Haken im wilden Wechsel. Im Oberstock tanzen die Passagiere „Porgy and Bess“; Kasuppke tanzt mit. Der Bus schaukelt; mir wird schlecht. Fußgänger, Motorroller sausen an der beschlagenen Scheibe vorbei; ein Sturzhelm fliegt, ein Rollstuhl kracht; „Wir leben, wir leben!“ Gut, also weiter, sagt Kasuppke, nur durch, nur durch nach Osten zum Alexanderplatz!
Da sind wir auf der Leipziger Straße; eine Blechlawine wird überrollt, eine Menschenlawine stürzt vom Oberstock und ergießt sich in den Gang; alles drängt nach vorn – was ist jetzt los? Fahrscheinkontrolle? Nein, die gibt es ja nicht mehr – eine Initiative namens „Pro Omnibus“ hat ihre Abschaffung bewirkt, unter der Leitung von Kasuppke; jetzt zahlt statt dessen jeder eine Omnibussteuer. Das hat den Vorteil, daß auch von denen Geld kommt, die gar nicht Bus fahren. Vorbild Rundfunkbeitrag. Wohin wollt ihr? frage ich einen, der sich in der dichten Masse nach vorn schiebt, wo Kasuppke etwas Unerkennbares austeilt. Er weiß es auch nicht. Die Passagiere singen: „Schiffmann, sag mir ehrlich: Ist’s denn so gefährlich?“; Kasuppke singt mit.
Ein dichter Schleier von Regen peitscht die Windschutzscheibe, hinter der Autos, Fußgänger, Radfahrer zusammengeschoben werden, erleuchtet von einzelnen Blitzen; die Scheibenwischer quietschen machtlos, doch es sieht eh niemand hin; das Prasseln der Regentropfen vermischt sich mit Donner, mit dem Trampeln der Füße und dem Kreischen und Knirschen der ineinander verkeilten Karosserien, die der gelbe Leviathan als dampfende und funkenschlagende Bugwelle rechts und links zur Seite drückt. Die Passagiere singen „Danke für diese guten Gaben“; Kasuppke singt mit.
Häuserreihen fliehen vorbei, der Autobus rast durch den dichten Verkehr, Scheiben klirren, Menschen springen zur Seite, Sturmböen heulen um den M48er; Kasuppke steht mit dem Rücken zu den Wagen und Menschen, die der Doppeldecker von der Gertraudenbrücke schiebt, sich den Weg Richtung Fernsehturm bahnend, und liest Vermeldungen vor.
Schließlich schlittert der Bus nach links, dann nach rechts, der Motor hinter mir heult ein letztes Mal auf, wir umrunden die riesenhafte Nadel, deren polierte Metallkugel in dichten Regengüssen verborgen ist; es spritzt, es quietscht, vorne kracht es ein letztes Mal, ein Haltestellenschild schrammt mit beängstigender Lautstärke den Unterboden entlang, dann kommt der M48er mit einem Stöhnen vor dem S-Bahnhof Alexanderplatz zum Stehen. Kasuppke verabschiedet sich, bedankt sich für die schöne Fahrt und wünscht guten Appetit und einen schönen Sonntag. Wie aus einem Munde erschallt von allen die fröhliche Antwort: „Danke, gleichfalls!“ Kasuppke tut kund: „Endhaltestelle; bitte alles aussteigen!“ und schreitet mit gewichtiger Miene durch den Gang zur Hintertür. Die Passagiere singen: „Highway to Hell“; Kasuppke singt mit.
Der Höllenritt ist zu Ende! Betäubt bleibe ich im Bus, bis alle anderen ausgestiegen sind. Schließlich wage auch ich mich nach draußen. Als ich auf dem Bürgersteig niederfalle und dankbar den Boden küsse, merke ich, daß er warm und trocken ist. Ich stehe auf und blicke um mich: keine Schramme ist am M48er zu sehen, gelb und blitzsauber steht er neben dem Schild mit dem grünen H, keine Spur der Verwüstung liegt hinter ihm. Alles scheint normal zu sein, niemand nimmt Notiz. Über mir glänzt die Kugel des Fernsehturms im Sonnenschein, der Himmel ist versöhnt und strahlt als freundlichblaues Zelt über dem Alexanderplatz.
Als ich Kasuppke im S-Bahnhof verschwinden sehe, frage ich mich zum ersten Mal: Wer hat eigentlich den Bus gelenkt?
Da hat sich das lange Warten ja mal wieder gelohnt, dankeschön!
AntwortenLöschenIch bin froh, daß der Bus wenigstens ad orientem gefahren ist.
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